Ende Oktober 1938 fährt nachts ein LKW in der Haschkestraße, dem damaligen Wohnort der Familie Neufeld, vor. Die Familie wird brutal dazu genötigt aufzusteigen und nach Polen abgeschoben. Sie wird Opfer einer bis dahin beispiellosen Aktion der Nationalsozialisten gegen Juden im Dritten Reich. Wie kam es dazu, dass am 28. und 29. Oktober 1938 etwa 17.000 polnische Juden Hals über Kopf über die polnische Grenze getrieben wurden?
Neufelds waren polnische Staatsbürger. Sie stammten aus Galizien. Von dort waren um die Jahrhundertwende hunderttausende Juden gen Westen emigriert. Sie hofften in den besser entwickelten Industriestaaten leichter Arbeit und Einkommen zu finden. So zog vermutlich auch Familie Neufeld nach Westen und ließ sich zunächst im Böhmerwald, später in Wittichenau nieder. Doch das erhoffte bessere Einkommen fand die Familie nicht. So versuchte Hermann Neufeld seine fünfköpfige Familie als Textilhändler zu ernähren.
In den 1930er Jahren verschlechterte sich die Lage der Juden in ganz Europa. Denn zehn Jahre nach der Weltwirtschaftskrise herrschte in Europa noch immer Massenarbeitslosigkeit und große soziale Not. Die daraus resultierenden gesellschaftlichen Konflikte verstärkten Ressentiments gegen Menschen, die als „Fremde“ galten. Man befürchtete, dass die aus anderen Ländern Hinzukommenden eine Konkurrenz auf dem heimischen Arbeitsmarkt darstellen könnten. So führten die Regierungen vieler europäischer Länder Einwanderungsbeschränkungen ein. Länder, die nach dem ersten Weltkrieg zum Wiederaufbau der Wirtschaft ausländische Arbeitskräfte ermuntert hatten einzuwandern, suchten nach Wegen den Zustrom wieder zu bremsen.
Polen versucht in Deutschland lebende Juden polnischer Nationalität auszubürgern
1938 sorgte in der internationalen Diplomatie zudem ein weiterer Anlass für Beunruhigung: Die im Reich angeordnete Registrierung jüdischen Eigentums weckte die Angst, dass eine Enteignung der nächste Schritt sein werde. Es kam zu Verfolgungen von Juden. Als Ergebnis musste das Heimatland der Familie Neufeld befürchten, dass tausende verarmte Juden polnischer Nationalität nach Polen zurückkehrten. Von den Nazis ihrer Vermögen beraubt, würden sie in Polen ein mittelloses Dasein fristen und vollständig auf wohltätige Zuwendungen angewiesen sein.
Um den befürchteten Flüchtlingsstrom abzuwenden, beschloss die polnische Regierung am 31. März 1938 ein Gesetz, das die Ausbürgerung von im Ausland lebenden, jüdischen Staatsbürgern vorsah. Wenn diese länger als 5 Jahre nicht mehr in Polen gelebt haben, sollte ihnen die polnische Staatsbürgerschaft ohne Widerspruchsrecht entzogen werden. Um die Ausbürgerung von im Ausland lebenden Polen zu beschleunigen, veröffentlichte die polnische Regierung am 15. Oktober 1938 folgenden Erlass: Polnische Bürger, die sich außerhalb des Landes aufhalten, sollen ihren Pass im für sie zuständigen Konsulat vorlegen und darin einen Kontrollvermerk eintragen lassen. Pässe, die diesen Vermerk nicht enthielten, verloren nach dem 29. Oktober 1938 ihre Gültigkeit. Damit wäre dem Passinhaber der Grenzübertritt untersagt. Bemerkenswert ist der kurzfristig anberaumte Termin. So erfuhren viele Bürger zu spät von der Anordnung, um die notwendigen Formalitäten erledigen zu können. Aber auch wenn sie sich fristgerecht im Konsulat meldeten, waren die Konsuln angewiesen den Kontrollvermerk nicht einzutragen.
Die Reaktion des NS-Regimes: Die unvermittelte Abschiebung von 17.000 polnischen Juden
Die Nationalsozialisten im Dritten Reich sahen jedoch – anders als von der polnischen Regierung erhofft – keineswegs gleichgültig zu, wie die Rückkehr einiger Tausend Juden nach Polen erschwert wurde. Das NS-Regime drohte am 26. Oktober: Sollte der Erlass nicht bis zum 28. Oktober 1938 zurückgenommen werden, werde Deutschland die polnischen Juden ausweisen. Auf eine Reaktion aus Polen warteten die Nazis nicht: Noch am 26. Oktober ordnete Reinhard Heydrich, Leiter des Reichssicherheitshauptamts, an, Juden polnischer Staatsangehörigkeit einen Ausweisungsbefehl auszuhändigen, terminiert auf den 29. Oktober. Als bis zum Abend keine Antwort Polens auf das Ultimatum vorlag, ließ Heydrich die Polizei mobilisieren, um diesen Befehl bekannt zu machen und die Deportation aller polnischen Juden in die Wege zu leiten.
So begannen Polizei und SS am Nachmittag des 27. Oktobers zunächst im Westen Deutschlands die polnischen Juden aus ihren Wohnungen zu holen und in Sonderzüge zu setzen, die die Juden an die polnische Grenze bringen sollten. Die Behörden gingen rücksichtslos und stellenweise brutal vor. Opfer berichteten später sie seien nachts aus dem Schlaf gerissen und im Nachthemd abgeführt worden. Zeit einige Habseligkeiten zusammenzupacken, wurde meistens nicht gewährt. Auch ihr Vermögen mussten sie zurücklassen. Lediglich 10 Mark durften sie mitnehmen.
Der Höhepunkt der Verhaftungen und Deportationen fiel auf einen Freitag sowie die Morgenstunden eines Samstags. So waren die Opfer der „Polenaktion“ gezwungen am Sabbat auf eine weite Reise zu gehen. Die strengen Vorschriften der jüdischen Religion schreiben den Gläubigen jedoch vom Sonnenuntergang am Freitag bis zum Sonnenuntergang am Samstag vor, keine Tätigkeit auszuüben, die man als Arbeit betrachten kann (also auch das Tragen von Gepäck) und nicht zu reisen. Diese Sabbatverletzung muss die Juden zusätzlich seelisch belastet haben.
Flüchtlinge werden im Grenzort festgesetzt
Die Deportationszüge hielten zumeist an den Grenzübergängen in Beuthen (Bytom/Oberschlesien) und Bentschen (Zbaszyn/Posen). In einer kalten Oktobernacht wurden die Juden bei Dauerregen Richtung Grenzübergang getrieben. Doch die polnischen Grenzpolizisten ließen die Deportierten nicht nach Polen und schickten sie zurück nach Deutschland. So soll es vorgekommen sein, dass die Deportierten mehrfach zwischen den Grenzen hin- und hergeschickt wurden. Schließlich trieb die deutsche Polizei die ausgewiesenen Juden mit aufgepflanzten Bajonetten über die grüne Grenze.
Auch Familie Neufeld soll nach Bentschen deportiert worden sein. Der kleine Ort war auf die zigtausenden Flüchtlinge nicht vorbereitet. Binnen zweier Tage wuchs die Bevölkerungszahl des damals etwa 5.400 Einwohner zählenden Ortes um das Doppelte. Zeitzeugen berichteten von chaotischen Zuständen. Mehrere Tausend Menschen drängten sich auf dem Bahngelände, hausten im Stationsgebäude oder lagerten auf nahe gelegenen Plätzen und Wiesen.
Nachdem die polnischen Grenzposten die Ausgewiesenen registriert bzw. deren Pässe kontrolliert hatten, konnten viele von ihnen innerhalb der ersten zwei Tage in das Landesinnere weiterreisen. Diejenigen allerdings, die nicht wussten wohin und jene, denen man die Einreise verweigerte, wurden in Bentschen interniert. Ein Großteil von ihnen musste in heruntergekommenen Pferdeställen einer Kaserne und in einer Mühle hausen. Teilweise fanden die Juden aber auch Zuflucht in den Häusern der Einwohner von Bentschen, in denen jüdische Hilfskomitees Zimmer anmieteten. Erst im Sommer 1939 wurde das Lager allmählich aufgelöst.
Dann wird auch Familie Neufeld zurück nach Galizien gefahren sein, um in ihrer ehemaligen Heimat Zuflucht zu suchen.