Das Puzzle eines Familienlebens - Herausforderung für unseren Forscherdrang

Beinah vergessen: Zur NS-Zeit wird eine jüdische Familie aus Wittichenau deportiert und in einem Vernichtungslager in Galizien ermordet. Die Wittichenauer Pfadfinder begaben sich auf ihre Spur.

Dem Vergessen entrissen

Es war auf einer Schulexkursion nach Berlin. Beim Besuch des Holocaust-Denkmals gibt Eric Schimann den Namen seiner Heimatstadt in die Datenbank der Opfer ein. Zu seiner Überraschung gibt die Suchanfrage die Namen einer jüdischen Familie aus. Familie Neufeld soll zur Zeit des Nationalsozialismus in Wittichenau gelebt und in Ostpolen ermordet worden sein. „Ich hatte noch nie davon gehört, dass in Wittichenau Juden gelebt haben. Noch weniger konnte ich mir vorstellen, dass meine Heimatstadt vom Holocaust betroffen war“, berichtet der 21-Jährige. Der Fund weckt seine Neugier. Wer waren diese Menschen? Eric befragt Verwandte, ob sie mit dem Namen etwas anfangen können. Erste Zeitzeugen erzählen von einem jüdischen Mädchen, mit dem sie die Spielschule besucht hatten. Es findet sich ein Foto jener Zeit, auf dem das Kind zu sehen ist. „Das hat mich gefesselt“, sagt Eric. „Das löst eine andere Betroffenheit aus, dieses Mädchen auf einem Foto zu sehen, als nur ihren Namen zu kennen.“ Er beschließt mehr über ihr Schicksal in Erfahrung zu bringen.

Ein Geschichtsprojekt entsteht

In Jörg Maywald, einem jungen Geschichtslehrer, findet Eric einen geeigneten Mitstreiter. Gemeinsam entwickeln sie die Idee für ein Jugendgeschichtsprojekt. Als langjähriger Gruppenführer der Wittichenauer Pfadfinder kann Schimann außerdem zehn Pfadfinder im Alter von 15 bis 26 Jahren für eine Mitarbeit gewinnen. Im März wählt eine Jury ihr Projekt für eine Förderung aus. Neben 23 weiteren sächsischen „Zeitensprünge“-Projekten dürfen sie sich über finanzielle und fachliche Unterstützung freuen.

Die Recherchen beginnen

„Wir wollen Verständnis und Anteilnahme für das Schicksal dieser jüdischen Familie auslösen“, sagt Eric Schimann zu den Zielen seines Projekts. Seine Absicht sei es, für die Folgen von Voreingenommenheit und Intoleranz zu sensibilisieren. Im April beginnen die Projektteilnehmer mit ihren Recherchen. Sie durchforsten Archive und Zeitungen, wälzen Literatur zur Judenverfolgung, durchstöbern das Internet und befragen zehn Wittichenauer Zeitzeugen. Diese waren Klassenkameraden, Nachbarn oder auch nur Mitbürger der jüdischen Familienmitglieder. Alle zehn können sich an ihre jüdischen Mitbürger erinnern – wenn auch nur bruchstückhaft. Ein Zeitzeuge stirbt Anfang September und dem Projektleiter wird bewusst: „Bald können wir niemanden mehr zu dieser Zeit befragen.“

Jüdisches Leben heute verstehen – Verantwortung für die Zukunft

Anfang Oktober ziehen die Projektteilnehmer Bilanz. Sie fassen zusammen, was sie über die Familie Neufeld herausfinden konnten. Um sich in ihre jüdische Kultur besser hineinversetzen zu können und jüdisches Leben heute zu verstehen, unternehmen sie Exkursionen in die Synagoge in Dresden, ins Jüdische Museum und ans Holocaust-Mahnmal in Berlin. Teilnehmer Lukas Winzer zeigte sich von dem Erkenntnisgewinn dieser Fahrten begeistert: „Während das Judentum im Schulunterricht nur auf die Zeit des Dritten Reichs reduziert wird, konnten wir hier die Vielfalt der jüdischen Religion erkennen.“ So misst Lukas diesen Exkursionen einen „unschätzbaren Wert“ für das Wissen um diese Religion bei.

       

     

Hermann Neufeld

* 01.01.1893 Totok Sloty, Kreis Buczacz
† Lwow (Lemberg)

Hermann war ein langer schlanker Mann. Er handelte mit Stoffen, Handtüchern, Tischdecken und Kurzwaren. Um den Lebensunterhalt seiner Familie zu verdienen, ist er viel unterwegs gewesen. Mit einem Bauchladen oder einem Paket unterm Arm zog er von Haus zu Haus und suchte Leute, die ihm aus seinem Sortiment etwas abkaufen. Zeitzeugen erinnern sich, dass er einen Mantel und einen alten grauen Hut trug. Auf seinen Verkaufstouren soll er nicht wahllos Häuser abgeklappert, sondern zielstrebig bestimmte Leute angesprochen haben, bei denen er Interesse an seinen Waren vermutete. Beim Verkaufs- preis hat er gerne mit sich handeln lassen. Um gegen die Kaufhaus- Konkurrenz bestehen zu können, muss er mit preiswerteren Stoffen gehandelt haben. Diese bot er vornehmlich ärmeren Familien feil. Gut bürgerliche Einwohner soll er nicht besucht haben, weil die sich im Kaufhaus einkleideten.

Rut Neufeld

* 15.01.1925 Horodenka
† 1942 Vernichtungslager Bełżec

„Ruth war nicht besonders. Sie war ein normales Mädchen. Sie war sehr unterhaltsam. Ich hab mich gern mit ihr unterhalten“, erzählt eine Klassenkameradin.

Klara Neufeld

* 01.04.1921 Horodenka
† 1942 Vernichtungslager Bełżec

„Klara war ein zurückhaltendes Mädchen. Sie hat sich wenig mit anderen abgegeben. Sie war oft für sich allein, ist allein ihren Heimweg gegangen“, erinnert sich eine Zeitzeugin. „Klara hatte wulstige Lippen und sah etwas anders aus als die übrigen Kinder in der Schule“, beschreibt die ehemalige Klassenkameradin das Mädchen weiter. Klara hatte dunkelbraune Haare und eine normale Größe für Kinder in ihrem Alter.

Zipora Neufeld

* 03.05.1884 Horodenka
† 1942 Vernichtungslager Bełżec

Familie Neufeld verhielt sich in Wittichenau sehr unauffällig, weshalb sich kaum ein Zeitzeuge an Zipora erinnern kann. Eine Zeitzeugin beschrieb ihre Statur als korpulent.

Rosa Neufeld

* 29.01.1919 Mühlbach, Bezirk Eger
† 1943 Galizien