Die Spielgefährten von nebenan

Auf der Hosker Straße wohnte im Haus gegenüber der jüdischen Familie Neufeld die Familie von Kurt Jonas (Jahrgang 1923). Als Kurt geboren wurde, wohnten Neufelds schon auf derselben Straße. Er wuchs mit Rut, Klara und Rosa auf.

Jonas sagt, er zählte damals zu den Einwohnern der Straße, die engeren Kontakt zu Neufelds hatten. Damals betrieben viele Nachbarn noch Landwirtschaft und hatten deshalb wenig Freizeit. “Wir hatten ein gutes Verhältnis zu Neufelds”, erzählt Jonas. “Der Kontakt war angenehm.” Kurt war oft drüben bei Neufelds. “Wir haben mit den Mädels gespielt. Wir haben Ball gespielt, Fangen und Verstecken.” Sie schnippten Murmeln um die Wette in ein kleines Erdloch. Für ihre Spiele hatten sie auf dem langen Hof des Hauses Hosker Straße 30 neben den Stallungen und Schuppen genug Platz. Der Hof reichte bis zur Mittelstraße. Manchmal da stellte Zipora Neufeld den Kindern durchs Schlafzimmerfenster frisches Gepäck heraus. “Das war etwas besonderes”, erklärt Kurt Jonas. “Solches Gebäck kannte ich nicht.” Etwa handtellergroß sei es gewesen und es schien ihm als sei es zu fremdsprachlichen Buchstaben geformt worden. Es könnten traditionell jüdische Bagel gewesen sein. “Wir sind dann immer wieder ans Fenster gelaufen und haben uns ein Stück genommen – bis der Teller leer war”, erzählt Jonas. Manchmal sei er auch zu Neufelds ins Haus eingeladen worden. Dort gab es dann auch dieses Gebäck und statt Kaffee ungesüßten Tee.

Zur Schule an der August-Bebel-Straße ging Kurt Jonas oft “hinten rum”, am Stadtgraben entlang. An der Kreuzung zur Kamenzer Straße traf er oft auf seinen jüdischen Klassenkameraden Max Hilsenrath, der vom Markt gelaufen kam. Sie setzten den Weg gemeinsam fort. Doch kann sich Jonas kaum noch an den Jungen erinnern. Von der zweiten jüdischen Familie in Wittichenau kann eine damalige Nachbarin berichten.

Theodora Kotylla (geb. Zomack) schrieb 1997 im Wittichenauer Wochenblatt von ihrer Freundschaft zu den Kindern der Familie Hilsenrath. Sie wohnten nebenan.

„In Gedanken sehe ich die Familie vor mir. Herr und Frau Hilsenrath sowie Sohn Salomon und klein Sonja mit dunklen krausen Locken. Der ältere Sohn Max groß, schlank und blond. Wir Kinder spielten zusammen“, schreibt Theodora. Max habe am Zaun gelehnt und zugeschaut, wohl als Hüter seiner kleinen Schwester. „Unser Spielplatz war die Wiese in unserem Garten, nur durch einen Zaun vom Nachbargrundstück getrennt.
Dieser Zaun wurde schnell überstiegen. Kamen andere Schulfreunde von uns dazu, verschwanden die Hilsenrath-Kinder, von Max aufgefordert.“ Die junge Theodora konnte das damals nicht verstehen: „Als Schulkind der Unterstufe hat man sich kaum Gedanken darum gemacht, zumal das Wort Jude bei uns nicht genannt wurde. Das waren eben Hilsenraths, und die Kinder unsere Spielgefährten.“
Sonja Hilsenrath nannte Theodoras Mutter „Tante Zomack“. „Meine Mutter kaufte bei Herrn Hilsenrath Arbeitsbekleidung für meinen Vater“, erinnert sich Theodora Kotylla. Sie denkt gern an die Kindheitserlebnisse mit den Nachbarskindern zurück: „Wenn meine Mutter zu Hilsenrath ging, wollten mein Bruder und ich immer gern mit. Hilsenraths Kinder hatten nämlich Meerschweinchen. Diese durften in der großen Küche frei rumlaufen, wenn wir kamen. Das gab uns Kindern großen Spaß.“

Von heut auf morgen kamen Salomon, Sonja und Max nicht mehr spielen  – für Zomacks Kinder völlig unverständlich. Die Eltern erzählten ihnen auf ihre Fragen, dass Hilsenraths fortgezogen seien. Aus Gesprächen ihrer Eltern sind Theodora Kotylla Worte der Besorgnis im Gedächtnis geblieben: „Ob Hilsenraths es geschafft haben?“ oder „Warum melden sie sich gar nicht“. Theodora Kotylla hat nie mehr etwas von ihren Spielkameraden gehört.